Gedanken zu wiederkehrenden Weihnachtsbräuchen:
Zum sechsten Mal erklangt dieses Jahr Bachs Weihnachtsoratorium in Werl am Tage vor dem
Heiligen Abend. Mittlerweile hat es sich zu einer Tradition etabliert. Der Madrigalchor Werl
lud dazu am 23.12. um 19.30 Uhr in die Propsteikirche ein.
Wenn man dem ganzen gegenüber kritisch eingestellt ist, könnte man fragen: „Warum denn
schon wieder Bachs Weihnachtsoratorium? Gibt es denn keine andere schöne Musik zum
Thema Weihnachten? Kann der Chor nicht einmal etwas anderes singen?“
Beides muss man mit „ja“ beantworten. Natürlich gibt es auch andere schöne Musik zum
Thema Weihnachten. In allen Musikepochen wurde viel dazu komponiert. Und der
Madrigalchor Werl kann natürlich auch andere Stücke singen. In den vielen Konzerten und
Auftritten der letzten Jahre hat der Chor das auch gezeigt.
Warum also immer wieder Bach?
Dies hat mehrer Gründe:
Bach ist einer der populärsten Komponisten der Welt. Nach Hochrechnungen ist er der
meistgespielte Komponist überhaupt. Das Weihnachtsoratorium nimmt in Bachs Schaffen
eine Sonderstellung ein. Es ist auf der einen Seite eine Ansammlung von sechs
Einzelkantaten, jeweils aufzuführen an den Gottesdiensten von Weihnachten bis zum Sonntag
nach Epiphanias (heilige drei Könige). Solche Kantaten zu den sonntäglichen Gottesdiensten
hat Bach zu hunderten geschrieben.
Doch in der grundsätzlichen Anlage hat Bach diese sechs Kantaten als Ganzes angelegt, halt
ein in sich geschlossenes Oratorium. Die Tonartenverbindungen und Gesamtproportionen
sowie die kompositorische Anlage zeigen dies deutlich. Zum anderen ist das Oratorium nicht
so schwer wie andere große Kompositionen von Bach, zum Beispiel die h-Moll Messe.
Des Weiteren hat Bach die Freude über die Geburt Christi musikalisch bedeutend „populärer“
ausgedrückt. Die Musik ist nicht so komplex angelegt; es gibt sogar homophone (alle
Stimmen haben den gleichen Rhythmus) Passagen, das Oratorium beginnt im unisono (alle
Stimmen singen die gleichen Töne). Das ist für Bach völlig untypisch.
Die Auswahl der instrumentalen Besetzung ist ebenfalls bezeichnend: er nutzt alle damals
üblichen Instrumente, von den Blechbläsern und Pauken (Trompeten und Hörnern) über die
Holzbläser (Flöten, Oboen, Fagott, die Klarinette war damals noch nicht so entwickelt, dass
Bach sie einsetzte) bis hin zu den obligatorischen Streichern. Der Einsatz der Instrumente ist
vielfach auch symbolisch zu sehen: Die Trompeten und Pauken symbolisieren die weltliche
sowie geistliche Herrschaft (Könige bzw. Gott), die Oboen stehen vor allem in der zweiten
Kantate für die Menschen auf der Erde (in diesem Fall die Hirten), die Flöten für das Schöne
und Liebliche.
Bach schafft es in seinem Weihnachtsoratorium also auf der einen Seite kompositorisch
höchste Qualität mit relativer Einfachheit für die Zuhörer zu verbinden. Dies ist in der
Barockmusik selten der Fall; daher die hohe Popularität dieses Werks.
Ein zweiter Aspekt kommt hinzu: Lieb gewonnene Sachen möchte man festhalten. Das ist bei
Musik nur möglich, indem man sie wiederholt. Im Radio zum Beispiel werden aktuelle
Pophits den ganzen Tag über mehrfach gespielt. So ähnlich ist es auch mit Bachs
Weihnachtsoratorium: Diese fantastische Musik möchten viele Menschen gerne erleben, und
das nicht über Lautsprecher zu Hause, sondern live aufgeführt; am besten natürlich von
Menschen, die man kennt.
Ein dritter Aspekt ist die Beschränkung des Weihnachtsfestes: Bei vielen Menschen ist das
Weihnachtsfest verkümmert auf Verwandtschaftsbesuche und Konsum in Form von
Geschenken, Essen und Trinken. Hier zeigt sich eine relative Inhaltsleere, bewusst oder
vielfach eher unbewusst. Dieser Leere wollen Menschen etwas hinzufügen, indem sie sich auf
etwas Hochwertiges mit Tiefgang einlassen. Bachs Weihnachtsoratorium ist hierzu perfekt
geeignet: mehr als bloße Unterhaltung; mehr als irgendwie schöne Musik; mehr als nur
Konsum; und vor allem Rückbesinnung auf das Wesentliche: Die Geburt Christi.
Insofern freut es die Mitglieder des Madrigalchors Werl, den Besuchern die Möglichkeit zu
bieten, das Weihnachtsfest am 23.12. mit Tiefgang zu beginnen. Es freut sie ebenfalls, wenn
eine Aufführung von Bachs Weihnachtsoratorium zu einer weihnachtlichen Tradition wird:
„Kein Weihnachtsfest ohne Bachs Oratorium.“ Der Tannenbaum gehört ja auch zu
Weihnachten dazu, obwohl es immer der gleiche ist…